Semana Santa in Sevilla – Die Prozessionen
In der Karwoche, von Palmsonntag bis Ostersonntag, gedenken Christen auf der ganzen Welt der Leidensgeschichte Jesu und seiner Auferstehung. In Spanien ist diese Woche der Passion mit besonderen Feierlichkeiten verbunden. Höchste Intensität erreichen sie in Sevilla. Leider “No Show” wegen Corona in den Jahren 2020 und 2021. Nun aber, in 2022, spürt man den Nachholbedarf der Sevillaner. Ich war bei zehn Prozessionen dabei.
Man muss nicht gläubiger Christ und praktizierender Katholik sein, um die Karwoche in Sevilla intensiv erleben zu wollen. Im Kern handelt es sich bei den Aktivitäten der über 60 Bruderschaften um Bußprozessionen mit zum Teil weit über tausend Teilnehmern, die an acht Tagen aus den verschiedenen Stadtvierteln zur Kathedrale Maria de la Sede und wieder zur Ausgangskirche führen. Diese Tradition geht auf das 16. Jahrhundert zurück. Damals, 1521, richtete ein Adliger nach seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land in der Stadt einen Kreuzweg ein, an dessen Stationen regelmäßig Prozessionen von sogenannten Büßer-Bruderschaften, den Hermandades, Halt machten. Diese Bruderschaften baten früher mit öffentlichen Selbst-Geißelungen um Sündenvergebung. Ihre Geschichte geht bis in das 14. Jahrhundert zurück. 1604 schließlich führte der Kardinal Niño de Guevara das Gebot ein, dass jede Hermandad auf ihrem Prozessionsweg die Kathedrale Sevillas besuchen musste.
Heute sind diese Bruderschaften,„cofradias“, in den einzelnen Stadtvierteln soziale Organisationen, Vereine mit Tausenden von Mitgliedern, die eng mit ihrem Umfeld verbunden sind. Eine Bruderschaft verfügt meist über eine eigene Kirche oder Kapelle mit besonderen Schutzheiligen. Neben der religiösen Glaubensausübung widmen sich die Hermandades gemeinnützigen, karitativen und sozialen Aktivitäten. Anfangs waren es nur Männer, heute sind auch viele Frauen in den Bruderschaften aktiv. Und viele Jugendliche und Kinder, die auch bei den Prozessionen mitlaufen.
Die ersten Prozessionen findet am Palmsonntag statt, die letzte am Ostersonntag. Jeder Tag der Karwoche steht unter einem bestimmten Thema der Leidensgeschichte. In diesem Jahr sollten 61 Prozessionen stattfinden. Da aber am zweiten und dritten Tag der Regen das ansonsten sonnige Wetter dominierte, sind fast zehn Prozessionen ausgefallen. Bei Nässe und Regen finden in der Regel aus Schutz der teilweise mehrere Hundert Jahre alten Passionsfiguren keine Prozessionen statt. Kommt es dennoch mal vor, so sinkt auch die Freude für den in der Menschenmenge stehenden Zuschauer.
Vier Bruderschaften schicken mehr als 2.000 Prozessionsteilnehmer auf die Straße: “La Macarena” – 2.700, “La Estrella” – 2.300, “San Gonzalo” – 2.300, und “El Gran Poder” – 2.200. Die wenigsten Teilnehmer laufen bei “El Sol” – 200, “El Carmen” – 300 und “La Resurreccion” – 300 mit. Da wir gerade bei der Statistik sind:
Palmsonntag / Domingo de Ramos
- Neun Prozessionen finden statt
- Die erste Prozession startet um 12:45 / Die letzte Prozession um 21:15
- Ich erlebe die dritte und die letzte Prozession „El Amor“ / Beide haben ihren Ausgangspunkt in der Iglesia Colegial del Salvador
- Meine erste Prozession „La Borriquita“ startet um 14:55 mit nur einem Paso
- Die längste Prozession „La Paz“ dauert zwölf Stunden
- Die Prozession mit der spätesten Rückkehr ist „La Estrella“. Zurück in der Capilla de la Estrella um 03:15
Am Palmsonntag zieht Jesus auf einem Esel in Jerusalem ein.
Montag / Lunes Santo
- Planmäßig finden neun Prozessionen statt
- Die erste Prozession beginnt um 11:30 / Die letzte Prozession um 20:45
- Da der Regen ab dem späten Nachmittag einsetzt, sehe ich eine Prozession nur in Fragmenten
Der thematische Schwerpunkt : Jesus steht kurz vor seiner Verhaftung.
Dienstag / Martes Santo
- Alle Prozessionen fallen aus / es wären acht gewesen
Der thematische Schwerpunkt: Im Tempel wird über das Schicksal von Jesus entschieden.
Mittwoch / Miercoles Santo
- Neun Prozessionen finden statt
- Die erste Prozession startet um 12:00 / Die letzte Prozession um 19:45
- Ich erlebe eine Prozession „El Carmen“ am Plaza de Alfalfa
- Die längste Prozession „La Sed“ dauert 13.5 Stunden
- Die Prozession mit der spätesten Rückkehr ist „Las Siete Palabras“. Zurück in der Parroquia de San Vicente um 03:15
Der thematische Schwerpunkt: Der Verrat von Judas
Gründonnerstag / Jueves Santo
- Sieben Prozessionen finden statt
- Die erste Prozession beginnt um 15:00 / Die letzte Prozession um 20:25
- Ich erlebe zwei Prozessionen „La Exaltacion“ und “El Valle” am Plaza de la Encarnacion
- Die längste Prozession dauert 9.5 Stunden
- Die Prozession mit der spätesten Rückkehr ist „El Valle“ um 01:15
Der thematische Schwerpunkt: Das Leiden Jesu. Tagsüber tragen die Frauen Mantillas. Dazu mehr in Teil II.
Der zeitliche Höhepunkt ist die Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag, die “Madrugada”. Ab Mitternacht starten die Prozessionen und ziehen sich weit in den Vormittag hinein. Mit dem flackerndem Kerzenlicht in der Dunkelheit, den Kapuzenträgern und der getragenen Musik wird jede Prozession zu einem mystischen Erlebnis. Dem Mitteleuropäer mag diese Tradition fremd erscheinen, aber im tiefen Süden von Spanien ist sie selbstverständlich.
Madrugada
- Sechs Prozessionen finden statt
- Die erste Prozession startet um 00:00 / Die letzte Prozession um 02:30
- Ich erlebe „La Macarena“ an der Straße Imagen
- Die längste Prozession „La Esperanza de Triana“ dauert 12.5 Stunden
Der thematische Schwerpunkt: Der Kreuzweg
Karfreitag / Viernes Santo
- Sieben Prozessionen finden statt
- Die erste Prozession beginnt um 15:45 / Die letzte Prozession um 20:30
- Ich erlebe „La Carreteria“ und „La Soledad“, beide am Plaza Nueva
- Die längste Prozession „ La O“ dauert neun Stunden
- Die Prozession mit der spätesten Rückkehr um 02:45 ist auch „La O“
Der thematische Schwerpunkt: Der Kreuzweg
Karsamstag / Sabado Santo
- Fünf Prozessionen finden statt
- Die erste Prozession startet um 12:45 / Die letzte Prozession um 19:00
- Ich erlebe „El Santo Entierro“ am Plaza Nueva
- Die längste Prozession „La Trinidad“ dauert 10.5 Stunden
- Die Prozession mit der spätesten Rückkehr um 01:30 ist auch „La Trinidad“
Der thematische Schwerpunkt: Jesus liegt im Grab
Ostersonntag / Domingo de Resurreccion
- Es findet nur eine Prozession statt
- Sie beginnt um 08:30 und endet um 17:15
- Ich erlebe „La Resurreccion“ direkt vor der Iglesia de Santa Marina / Salida
- Die Prozession dauert ca. neun Stunden
Das Thema: Die Auferstehung
Alle Prozessionen müssen zur Kathedrale. Deshalb ist dort und in der Umgebung auch der einzige Platz, an dem man alle Prozessionen, bei Bedarf, bequem erleben kann. Bequem, weil es in diesem für die allgemeine Öffentlichkeit nicht zugänglichen Umfeld (Absperrungen) nur kostenpflichtige Sitzmöglichkeiten, Klappstühle, gibt – bis zu 400 Euro für einen Stuhl.
Wer nicht zahlen will, so wie ich, muss sich früh genug einen Stehplatz entlang der Prozessions-Route suchen. Mal gelingt mir das in der ersten Reihe, mal stehe ich im Pulk und muss meine Fotos mit Köpfen schmücken.
Wie ist nun eine Prozession aufgebaut?
Alle Prozessionen haben einen fast identischen Aufbau, wobei die meisten Bruderschaften zwei Pasos haben. Ein Paso ist ein mobiler Altar, der von bis zu 36 starken Männern getragen wird. In der diesjährigen Karwoche gab es sechs Bruderschaften mit drei Pasos und sechs Bruderschaften mit nur einem Paso.
An der Spitze der Prozession wird das Kreuz „Cruz de Guia“ geführt.
Es folgen die “Nazarenos del Cristo”. Offiziell der erste Teil der Büßer. Sie tragen lange Tuniken mit spitz weglaufenden Gesichtsmasken, kegelförmigen Kapuzen, die zwei Löcher für die Augen haben. Wer nicht um diese Tradition weiß, wird einschüchternd an den Ku-Klux-Klan erinnert. Jede Bruderschaft hat eine eigene Farbkombination, es überwiegen die Farben weiß, schwarz und violett. Mit der linken oder rechten Hand wird die Kapuze ständig nach unten gezogen, damit der Augenschlitz auf der richtigen Höhe liegt. Eine typische Handhaltung, die auf Dauer zur Belastung werden kann. Die Nazarenos tragen lange Kerzen mit „richtigem“ Docht und andere Insignien. Der Ursprung des Namens stammt aus Galiläa, wo Jesus den größten Teil seines Lebens verbrachte. Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr arbeitete er in Nazareth. Einige Nazarener gehen auch barfuß oder in weißen Socken, aber in der Regel haben die Teilnehmer aufgrund der langen Dauer der Prozession bequeme Schuhe an.
Darauf folgt der „Paso del Christo“, eine figürliche Darstellung einer Szene aus der Leidensgeschichte entsprechend der Tagesthematik. Der schwere Paso wird je nach Größe von bis zu 36 kräftigen Männern getragen, die sich Schritt für Schritt, nicht sichtbar für das Publikum, fortbewegen. Mehr zu den Trägern in Teil II. Am Streckenrand herrscht ein munteres Geschwätz, die Leute stehen zusammen und reden. Kommen die Pasos, tritt plötzlich absolute Stille ein. Nach dem ersten Paso oder bei zwei Pasos für Christus folgen meist Nazarenos, die statt Kerzen ein Kreuz tragen. Ohne die klassischen Kapuzen.
Nach dem ersten Paso oder bei zwei Pasos für Christus folgen meist Nazarenos, die statt Kerzen ein Kreuz tragen. Ohne die klassischen Kapuzen. Es schließt sich die erste Kapelle an, die getragene Musik spielt. Einige Kapellen haben eine Stärke von über 150 Musikern. Die Musik ist trotz des manchmal einschläfernden Vortrages sehr emotional.
Dann folgt der zweite Teil der Büßer, die „Nazarenos de la Virgen“, manchmal auch anders als die Christo-Gruppe gekleidet. Für viele kommt dann der Höhepunkt: der „Paso de la Virgen“ mit einem baldachinüberdeckten und kerzengeschmückten Marienbild, das ebenfalls von einer Gruppe starker Männer getragen wird. Hier, wie aber auch beim ersten Paso, kommen die Besucher nach vorne und wollen den Altar berühren. Die Marienverehrung in Andalusien ist ausgeprägter und intensiver als in anderen Regionen Spaniens.
Die berühmteste Marienfigur in Andalusien ist die Schutzheilige der Stierkämpfer “Nuestra Senora de la Esperanza”. Mehr über sie in der Fortsetzung dieses Beitrages. Zum Prozessionszug gehört auch die Saeta. Das ist ein aus dem Flamenco abgeleiteter Gesang, der von einzelnen Sängern oder Sängerinnen von Balkonen entlang der Prozessionsstrecke a cappella vorgetragen wird. In der Regel widmet sich der Text dem Marienbildnis.
Zum Abschluss folgt wieder eine Musikkapelle, diesmal mit Märschen wie “Jungfrau des Tales”, komponiert 1897.
So bewegt sich die Prozession mit vielen Verzögerungen auf einer vorgezeichneten Route mit einem penibel festgelegten Zeitplan Richtung Kathedrale und zurück. Vorbei an Enge und Gedränge. Ist das Kreuz in Sicht, nehmen die Dezibel der plaudernden Menge ab, kommt der erste Paso wird aus den Zuschauern eine andächtige Gemeinde. Von klein auf werden die Kinder mit der Familientradition der Zugehörigkeit zu einer Bruderschaft vertraut gemacht. Das macht die Semana Santa für die meisten Familien zu einem unvergesslichen Highlight des Jahres. Zu einem religiösen Fest, das familiäre Gemeinschaft stiften soll. Für viele beginnt das Jahr deshalb erst mit Ostern. Kinder lernen sehr früh traditionelle Verhaltensweisen, sodass es nicht wundert, dass Sevilla eine der führenden größeren Städte in Spanien ist, die von der Tradition “regiert” wird.
In den Tagen vor der Karwoche und in den Tagen vor der Prozession sind die Pasos in den Kirchen ausgestellt. Es herrscht ein gewaltiger Andrang. Mehr darüber im zweiten Teil des Beitrages „Semana Santa – Impressionen“.